Dieser Beitrag ist am 3.6. 2020 zuerst in der Automobil Industrie 06/20 erschienen.Automobilentwicklung heißt heute auch: vernetzte Systeme, agile Prozesse und Cybersecurity. Was das für IT–Entwickler bedeutet, erklärt Martin Zißler, Geschäftsführer der MVI Solve-IT. – DAS INTERVIEW FÜHRTE THOMAS GÜNNEL – » Herr Zißler, unsere Fahrzeuge werden immer vernetzter und entwickeln sich zu „fahrenden Smartphones“. Welche Herausforderungen ergeben sich daraus für IT-Projekte bei Automobilherstellern? Vor allem sind die IT-Systeme bei Automobilherstellern hochvernetzt. Alles dreht sich um die Entwicklung und Vermarktung des Kernprodukts und die zusätzlich angebotenen Mobilitäts- und Informationsdienstleistungen. Die Menge der Schnittstellen ist außerordentlich hoch. Dabei haben die Systeme sehr unterschiedliche Technologiestände. Viele hochrelevante Datenquellen basieren auf vergleichsweise traditioneller Technologie und Architektur. Sie auf moderne Plattformen umzustellen, ist aufgrund ihrer hohen operativen Relevanz und ihrer vielen Schnittstellen sehr herausfordernd. In jüngeren, oft eher peripheren Systemen kommen modernste Technologien zum Einsatz. Diese Heterogenität stellt die Software–Architekten und Entwickler vor besondere Herausforderungen. Zudem gibt es kaum Green–Field–Projekte, im Gegenteil: Die meisten Systeme haben eine jahrelange Historie. Der Druck der kontinuierlichen Weiterentwicklung dieser Systeme ist aber sehr hoch und meist zeitkritisch. Erfolgreiche IT–Dienstleister brauchen deshalb technische Kompetenz: in traditionellen und modernen Architekturen und Technologien. Außerdem müssen sie die fachlichen Anforderungen und das Gesamtsystem so gut verstehen, dass die Ziele effizient realisiert werden können. » Woher kommen die Anforderungen an die IT-Systeme? Typischerweise ergeben sich in einer Fachabteilung aus der Entwicklung oder dem Marketing neue fachliche Anforderungen. Ausgelöst werden diese häufig durch Marktdynamiken rund um das sich verändernde Komsumentenverhalten, den „Digital Lifestyle” oder die Transition traditioneller Wertschöpfungsketten in Richtung unabhängiger, aber hochgradig kooperativer digitaler Serviceplattformen. Treiber sind unter anderem die Hyperconnectivity in Entwicklung, Produktion und Nutzung der Fahrzeuge sowie datenbasierte Services und Geschäftsmodelle. Diese Anforderungen lassen sich in der Regel nicht allein durch ein neues System lösen, sondern erfordern Anpassungen in Bestandssystemen. Der Funktionsumfang der IT–Systeme liegt häufig quer zur Organisation in den Fachbereichen. Deshalb müssen mehrere IT-Systeme angepasst und weiterentwickelt werden – und müssen dabei ihre Funktion aufrechterhalten. Diese Prozesse zu koordinieren und abzusichern, erfordert mehr als technologische Kompetenz. Nur durch konkrete einschlägige Erfahrung im Team lassen sich die gewünschten Ergebnisse erzielen. » Welche Rolle spielen dabei agile Methoden wie Serum? In allen Großprojekten kommen agile Frameworks zum Einsatz. Für die beschriebenen Herausforderungen verwenden unsere Kunden meist agile Skalierungsframeworks wie LeSS, SAFe oder Scrum@Scale. Auf Seiten der Anforderer finden sich fachliche Product Owner. Sie vertreten die gewünschte neue Funktion. Komplementär sorgen die IT–Product–Owner für die einzelnen Systeme dafür, dass dort jeweils die erforderlichen Weiterentwicklungen durchgeführt werden. Wir stellen in der Regel Proxy-ProductOwner gegenüber. Diese verstehen den fachlichen Kontext und haben so immer die neue Funktion als Ziel vor Augen. Gleichzeitig haben sie Expertenwissen und Erfahrung in den betreuten Systemen und können gemeinsam mit dem IT–Product-Owner des Kunden eine effiziente Realisierungsstrategie entwerfen. Diese wird in User Stories heruntergebrochen und bei uns in Feature–Teams umgesetzt. Die Anpassungen in den Systemen gleichen wir regelmäßig miteinander ab. Entwicklungen in kleinen Systemen werden häufig noch als Gesamtgewerk angefordert. Das senkt die Komplexität des Auftrags und ist durchaus sinnvoll. Wir sind aber von der Überlegenheit moderner Methoden hinsichtlich Effizienz und Flexibilität so überzeugt, dass wir auch diese Aufträge agil realisieren. Konkret bedeutet dies: Wir zerlegen die Gesamtanforderung in User Stories und realisieren agil in Sprints. Dabei binden wir den Kunden aktiv ein und schlagen Optimierungen hinsichtlich des Ziels und Wegs vor, wann immer sich diese ergeben. Damit profitieren unsere Kunden von den Vorteilen agiler Softwareentwicklung, selbst wenn die Beauftragung dies nicht explizit vorsieht. Immer bedeutsamer wird auch die Verschränkung zwischen Softwareentwicklung und –betrieb im sogenannten DevOpsModell. Dies sorgt dafür, dass der Softwarebetrieb bereits bei der Systementwicklung stärker mit berücksichtigt wird , da die Verantwortung dafür im selben Team bleibt. Auch komplexe Probleme im Betrieb können so schnell und effizient gelöst werden, da die volle Entwicklungskompetenz und –erfahrung unmittelbar zur Verfügung stehen. » Ist beim Systembetrieb der Kostendruck sehr hoch? Wie realisieren Sie diesen preislich? Wir haben sehr gute Erfahrungen mit DevOps-Teams über verschiedene Standorte hinweg gemacht und dieses Modell immer weiter optimiert. Alle Mitarbeiter unserer DevOps–Teams haben Entwicklungs– und Betriebs–Know–how.In der Praxis bilden sich aber immer Schwerpunkte und Kernkompetenzen heraus. Wir nutzen dies so, dass wir für die Proxy–Product-Owner, Architektur– und Lead–Developer–Rollen hohe Kundennähe und persönliche Verfügbarkeit herstellen. Das ist notwendig, weil komplexe Abstimmungen mit Kunden sehr vom persönlichen Austausch auch zu impliziten Informationen profitieren. Große Teile der Realisierung und des Betriebs werden von Kollegen an Nearshore Standorten übernommen. Dies darf aber nicht mit einer klassischen Aufgabenteilung oder einer verlängerten Werkbank verwechselt werden! Es handelt sich um echte DevOps–Teams im Selbstverständnis und der Leistungserbringung. Um dies nachhaltig sicherzustellen, sorgen wir für regelmäßigen persönlichen Austausch und rotieren die Schwerpunktrollen in den Teams. » Spielt IT-Security auch eine Rolle in Ihren Projekten? Absolut! IT–Security bekommt außerordentliche Bedeutung, da immer mehr Systeme Schnittstellen zu Händlern, Service Agents oder Endkunden haben. Der Endkunde interagiert nicht nur über das Fahrzeug, sondern auch über Smartphone–Apps oder das Web. Diese Schnittstellen sind hoch abzusichern. Besonders auch im Hinblick auf die vernetzten Schnittstellen von Sicherheitsfeatures und Fahrerassistenzsystemen, die den Weg zum hochautomatisierten Fahren bereiten. Für diese Anforderungen haben wir ein eigenes Automotive–IT-Security-Team aufgebaut. Diese Experten sichern seit Jahren eigene IT–Projekte, vor allem aber auch ITProjekte anderer Dienstleister hinsichtlich Security ab. Eine sehr verantwortungsvolle Aufgabe, die Spezialkompetenzen erfordert und künftig sicher an Bedeutung gewinnen wird.
